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Ein Boot voller Fressfeinde

„Du glaubst also ganz ehrlich, dass da ein Typ mit allen Tieren dieser schönen Erde in einem Boot für 40 Tage über das Wasser schippert und hinterher leben noch alle im Boot?“ Meine Freundin neigt ihren Kopf und sieht mich fragend an. „Klar kein Problem für meine Fantasie. Gott kann doch alles.“, sage ich und bin wenig beeindruckt. „Und wie erklärst Du Dir, dass die Wissenschaft ganz klar sagen kann, dass es nie eine Flut gegeben hat, bei der die gesamte Erdoberfläche mit Wasser bedeckt war?“ „Na die Wissenschaft arbeitet ja auch nur mit Theorien. Wenn in der Bibel steht, dass das passiert ist, dann ist das so. Dann ist die Geschichte wahr. Für mich hat die Bibel die Autorität, nicht die Wissenschaft!“, schleudere ich ihr meine Standardantwort auf alle „Aber die Wissenschaft sagt…“-Fragen entgegen. Fühle mich gut dabei. Als hätte ich die besseren Argumente. Merke nicht, wie gefährlich realitätsfern das Gedankengut ist, das mir seit meiner Kindheit überall begegnet ist. Mein 22-jähriges Ich argumentiert leidenschaftlich und arrogant. Ich bin mir sicher, dass ich recht habe und bedaure meine Freundin dafür, dass sie nicht genug Glauben hat, um das Wort der Bibel ernst zu nehmen. „Aber kann die Geschichte nicht auch wahr sein, ohne dass es sich faktisch so dargestellt hat? Kann man nicht auch etwas aus der Geschichte lernen, etwas Wahres, ohne dass es Noah als historische Person tatsächlich gegeben haben muss?“ Meine Freundin gibt nicht auf. Ich auch nicht. Wahrheit ist mein Stichwort für die nächste evangelikale Standardantwort meinerseits: „Du kannst nicht anfangen, dir auszusuchen, welche Geschichten aus der Bibel wirklich wahr sind und welche nicht, nur weil du dir Manches nicht vorstellen kannst!“ Unser Gespräch endet irgendwie ungut.

Was mein 22-jähriges Ich alles übersieht?

Zunächst einmal, dass Wahrheit vielschichtig ist und etwas nicht nur dann wahr ist, wenn es genau so faktisch passiert ist. Wenn Goethe in seinem Gedicht „Willkommen und Abschied“ also schreibt:

„Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde!
Es war getan fast eh gedacht.
Der Abend wiegte schon die Erde,
Und an den Bergen hing die Nacht;
Schon stand im Nebelkleid die Eiche,
Ein aufgetürmter Riese, da,
Wo Finsternis aus dem Gesträuche
Mit hundert schwarzen Augen sah.“

– dann trägt die Eiche nicht wirklich ein Kleid und die Finsternis sitzt auch nicht wirklich im Busch und hat 100 schwarze Augen. Was Goethe sagen möchte, transportiert er in Bildern. Trotzdem ist das was er sagt nicht falsch. Etwas kann zuverlässig und zutreffend sein, ohne auf der faktischen oder historischen Ebene korrekt zu sein. Das verstehen wir bei Goethe sofort. Wieso sollte es bei einem biblischen Text einer bestimmten Textgattung anders sein?

Meinem 22-jährigen Ich ist nicht bewusst, dass es verschiedene Textsorten in der Bibel gibt. Was mir zu diesem Zeitpunkt noch alles nicht bewusst ist? Dass eine Erzählung genau das sein möchte – eine Erzählung – und nicht historischer Tatsachenbericht. Dass die Bibel nicht fertig und fehlerfrei vom Himmel gefallen ist, sondern aus einer Erzählgemeinschaft heraus entstanden ist. Hunderte Male erzählt und dann erst aufgeschrieben. Dass ein Mensch im alten Orient kein modernes Verständnis von Zeit und Geschichtsschreibung hat. Dass ich meinen Verstand beim Bibellesen nicht ausschalten muss. Ein Boot voller Fressfeinde und alle haben sich lieb? Klingt wie ein Märchen? Irgendwie fabulös? Warum nur? Da wären wir wieder bei der Frage der Textgattung. Der Text über Noah und die große Sintflut beantwortet viele Fragen nicht. Wie genau soll das funktioniert haben? Wie viele Tierarten waren da in dem Boot? Man geht davon aus, dass es heute 5 bis 50 Millionen verschiedenen Tierarten gibt – wie haben die alle in das Boot gepasst? Woher wusste Noah, dass alle da sind? Wie konnte genug Essen für all die verschiedenen Tiere beschafft werden und finden die Tiere die Arche oder Noah die Tiere? Der Text hat nicht den Anspruch diese Fragen zu beantworten. Oder wie Sigfried Zimmer sagt: „Man fragt ein Gedicht über den Wald ja auch nicht ‚Was kostet der Quadratmeter Tannenholz?'“ Wäre der Text jedoch ein Tatsachenbericht (im Übrigen eine Textgattung die sehr viel später erst entstanden ist), so müsste er all die genannten Fragen beantworten. Viel interessanter ist es heute für mich, über die Erzählabsicht des menschlichen Erzählers nachzudenken – etwas, das ich als 22 Jährige beim Lesen der Bibel oft verpasst habe, weil ich zu verbissen damit beschäftigt war, kognitive Dissonanzen auszuhalten und wegzurelativieren mit einer „Gott kann alles“ – Mentalität.

Wie schaue ich heute auf diese mythische Geschichte über ein Schiff das den Artenerhalt garantieren soll? Zunächst einmal stelle ich mir Fragen. Wer erzählt die Geschichte und warum? Wann wird sie erzählt und wann aufgeschrieben? Für wen wird sie aufgeschrieben? Was möchte der Geschichtenerzähler über den Gott Israels sagen? Ich erlaube mir sogar Fragen, auf die ich keine statischen Antworten finden werde.

Heute lese ich die Bibel als ein Dokument ihrer Zeit. Das bedeutet, ich betrachte den vorliegenden Text als ein Produkt der antiken Welt. Von einem antiken Menschen aufgeschrieben. Ein Mensch, dessen antikes Weltbild bestimmte Gedankengänge und Möglichkeiten nicht kennt und deshalb außer Acht lässt. Ein Mensch, der eine bestimmte Zuhörerschaft im Sinn hat, als er den Text niederschreibt. Ich tue nicht länger so, als wäre jeder einzelne biblische Text auch auf mich und meine Situation anwendbar oder gar für mich gedacht.

Ich lasse zu, dass der Text in mir verschiedene Emotionen hervorruft. Ich erlaube mir, es grausam zu finden, dass sämtliche Menschen und Tiere hier vernichtet werden. Ich erlaube zu bemerken, dass der dargestellte Gott hier ganz schön schnell keine Lust mehr auf seine Menschen hat – wurden sie nicht ein paar Seiten weiter vorne gerade erst geschaffen? Erleichtert bemerke ich, dass Gott in dieser Erzählung nicht statisch ist. Im Gegensatz zu dem unveränderlichen Gott, der mir in meiner Kindheit und Jugend gepredigt wurde, bereut Gott in diesem Text sein Tun. Zunächst bereut er die Schöpfung. Dann bereut er seinen Plan die Schöpfung zurückzunehmen und zu vernichten – Gott begegnet mir in dieser Geschichte dynamisch.

Ich forsche und finde heraus, dass in der antiken Welt verschiedene Flutgeschichten kursierten, die biblische ist eine unter vielen. Man vermutet, dass die Vielzahl der Flutgeschichten auf eine Flut in Mesopotamien in 2900 BCE zurückzuführen ist. Spannend ist, dass die verschiedenen Erzählungen verschiedene Deutungen für das Warum der Flut finden und viele auch im Kontext von Schöpfungsgeschichten erzählt werden. Wer sich dazu weiter belesen möchte, dem empfehle ich das Gilgamesch Epos oder auch das Atraḫasis-Epos – die Parallelen zu der Figur des Noahs sind verblüffend. Während in anderen Fluterzählungen die Flut eine Bestrafung der Menschen durch die Götterschar darstellt, bietet die biblische Fassung eine monotheistische Version: Der mächtige Gott Israels ist der Herr über die Flut, welche ihr Warum im menschlichen Übel ( nicht etwa in der Übellaunigkeit der Gottheit) findet und als Gottes (Beinahe-)Rücknahme der Schöpfung betrachtet werden kann.

Thorsten Dietz schreibt in seinem Buch „Weiterglauben“ zur Sintflutgeschichte: „Als die Geschichte der Sintflut in Israel aufgeschrieben wurde, lasen oder hörten die Menschen diese Erzählung von vorneherein als eine Variante einer in ihrer gesamten kulturellen Umwelt bekannten Geschichte.“

Ist doch ein spannender Gedanke oder?

Weitere Gedanken die ich für mich aus dem Text herausarbeite:

  • Hier wird ein Gott beschrieben, dem die Erhaltung der Artenvielfalt wichtig ist
  • Gott ist in dieser Geschichte ein Gott des Neuanfangs
  • Gott schenkt Noah ein Symbol als Erinnerungsstütze- welche Symbole helfen mir, hoffnungsvoll an Gottes ungezähmter Güte festzuhalten?

Wenn ich also heute einen Bibeltext lese, dann erlaube ich mir, ihn als weiße, europäische cis-Frau zu lesen. Und dann mache ich mir sehr bewusst, dass es noch zig Millionen andere Blickwinkel und Interpretationen gibt, die meinen Horizont weiten können. Ein Gott der das Universum geschaffen hat, wird immer unverfügbar bleiben. Wird immer eine unbegreifliche Komponente haben. Alles was ich von Gott verstehe, ist Fragment. Stückwerk. Und was ich heute meine zu verstehen, kann sich morgen ganz anders darstellen. Eindeutig ist also kein einziger Text mehr wenn ich in der Bibel lese. DIE eine Botschaft eines Textes gibt es für mich nicht. Aber Vielschichtigkeit, Vieldeutigkeit, Facettenreichtum, Perspektiven & Blickwinkel.