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Gefühle fühlen

„Gefühle sind Warnsignale unserer Seele. Sie können uns vor Gefahren warnen. Sie haben sich evolutionsbiologisch durchgesetzt, weil sie einen evolutionären Sinn haben. Gefühle sind sinnvoll. Alle Gefühle dürfen sein, alle Gefühle dürfen gezeigt werden.“

Ella blickt verstohlen auf ihre Fußspitzen. Frau Jannsen, ihre Therapeutin sieht sie unverwandt an. „Bereitet Ihnen etwas davon Unwohlsein? Würden Sie mir da widersprechen wollen?“
Ella schüttelt schnell den Kopf. Nein. Widersprechen möchte sie nicht. Sie blickt auf. „Ich bin Ihrer Meinung. Alles was Sie gerade gesagt habe, möchte ich so an meine Kinder weitergeben. Ich weiß nur nicht, ob ich es wirklich glaube.“ Wieder wandert ihr Blick auf ihre staubigen Sneaker, die schon bessere Tage gesehen haben. „…oder besser gesagt, ich habe das anders gelernt. Ich muss ganz viel umlernen.“

„Wir spielen jetzt ein Spiel.“, erklärt die Therapeutin. „Ich mache eine Aussage und Sie antworten intuitiv was Ihnen dazu in den Sinn kommt und was die Stimmen Ihrer Vergangenheit dazu zu sagen haben.“
„Okay“, murmelt Ella und ist sich nicht sicher, worauf Frau Jannsen hinaus möchte.
„Alle Gefühle sind okay.“
Uff. Ella schluckt. „Jein.“, antwortet sie zögerlich. „Jein?“ Frau Jannsen sieht sie fragend an.
Ella holt Luft:„Ich finde auch, alle Gefühle sind okay. Also in der Theorie. Ich wünsche mir das für meine Kinder. Aber die Stimmen meiner Vergangenheit sagen, es gibt Gefühle die sind nicht so ganz okay.“
„Welche Gefühle sind das?“
„Mmm… Wut zum Beispiel. Angst. Trauer. Das war alles eigentlich nicht okay und naja… das waren bei uns schlechte Gefühle.“
„Wieso?“
Ella überlegt einen Moment. „Es ist Sünde wütend zu sein. Wütend sein heißt, man verhält sich nicht liebevoll und damit hat man nicht verstanden was die Bibel sagt - beziehungsweise was Gott möchte. Wut durfte nicht sein - sie wird dem Bösen zugerechnet. Vor allem durfte man nicht als Mädchen wütend sein. Eine Frau Gottes ist ausgeglichen und sanftmütig.“
Frau Janssen kommentiert Ellas Aussage nicht und schreibt etwas in Ihr Notizbuch. „Was ist mit Angst und Trauer?“, fragt sie nach.
Ella fährt fort: „In der Welt aus der ich komme - oh man das klingt als käme ich aus einem anderen Universum… naja ein bisschen ist es ja auch so…“ Ella lacht leise als Frau Jannsen zustimmend nickt. „ Na also in der Welt aus der ich komme, heißt Angst, dass man Gott nicht genug vertraut. Schließlich sagt die Bibel an zig Stellen, dass wir uns nicht fürchten müssen. Wer ängstlich ist, hat noch nicht verstanden wie mächtig Gott ist. Und Traurigsein ist auch schwierig - schließlich heißt es in der Bibel, die Freude am Herrn ist unsere Stärke und wir werden aufgefordert uns zu freuen - jemand der traurig von der guten Botschaft erzählt ist halt nicht besonders glaubwürdig, verstehen Sie?“ Ella lacht verlegen. Es kommt ihr blöd vor, all das laut auszusprechen. Sie ist sich nicht sicher, ob jemand wie Frau Jannsen, die ihre fromme Biographie nicht teilt, überhaupt nachvollziehen kann, wie das alles Sinn ergibt.
„Wut, Trauer und Angst sind also schlechte Gefühle?“, fasst Frau Jannsen fragend zusammen. Ella nickt. „Ein Teil von mir glaubt immer noch, sie sind falsch. Ich habe viel Zeit und Kraft investiert, sie nicht zu fühlen und vor allem nicht zu zeigen. Aber für meine Kinder wünsche ich mir das anders.“
Frau Jannsen klappt ihr Notizbuch zu. „Das sagen Sie jetzt zum wiederholten Male. Ich wünsche es mir für Sie anders. Nicht nur für Ihre Kinder.“ Ella spürt einen dicken Kloß im Hals. Wieder weicht sie dem Blick ihrer Therapeutin aus. „Ich wünsche mir für Sie, dass sie alle Gefühle fühlen dürfen. Dass sie sie zeigen dürfen. Dass sie sie sich erlauben und zugestehen, weil sie zu ihnen gehören und ihr Menschsein ausmachen. Weil Ihnen Ihre Seele darüber etwas mitteilen möchte. Weil es gesund ist, der eigenen Seele zuzuhören. Ich sage nicht, dass sie auf jedes Gefühl anspringen müssen. Aber Ich wünsche Ihnen, dass Sie Ihre eigenen Gefühle wertfrei wahrnehmen können.“ Ella spürt Tränen im Augenwinkel. Schnell wischt sie sie weg. „Jetzt in diesem Moment spüren Sie etwas, das sie unterdrücken, deute ich das richtig?“
„Ja.“
„Erlauben Sie sich, das jetzt zu fühlen. Sie dürfen berührt sein. Sie dürfen wütend darüber sein, dass Sie für Ihre Gefühle beschämt wurden. Sie dürfen traurig darüber sein, dass man Ihnen etwas weggenommen hat, das zu Ihnen gehört. Sie dürfen erleichtert sein, zum ersten Mal ihren Impulsen nachzugehen und Gefühle zuzulassen. Sie dürfen alles fühlen und das auch zeigen. Daran ist nichts falsch. Gefühle können eingeteilt werden in unangenehm und angenehm aber niemals in richtig und falsch.“
Ella lässt es zu, dass eine Träne über ihre Wange wandert. Es fühlt sich seltsam an, vor Frau Jannsen zu weinen.
„Es kommt mir falsch vor, die Kontrolle über meine Gefühle loszulassen. Ich wurde immer aufgefordert Gefühle zu kontrollieren. Herrin über Gefühle zu sein und ihnen nicht zu glauben. Ihnen immer das Wort Gottes entgegen zu setzen.“
Frau Jannsen lehnt sich nachdenklich zurück. „Aber Ella, glauben Sie als Christin nicht an einen Gott der Liebe? Das frage ich, als nicht religiöse Person. Wie passt das zusammen, dass dieser Gott Ihnen Gefühle gibt, um Sie dann zu strafen oder weniger zu lieben, wenn sie diese nicht schnell genug wegdrücken? Müsste ein Gott der Liebe Sie nicht liebevoll in den Arm nehmen und Ihre Gefühle begleiten anstatt Sie dafür zu bewerten?“
Ein Lächeln stiehlt sich auf Ellas Gesicht. „Da sagen Sie etwas.“