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Jüngerin

Von hier kann ich die ganze Straße sehen. Ich sitze oft hier in der Fensternische und beobachte das bunte Treiben auf der Straße. Ich liebe es, Menschen zu beobachten- man kann unfassbar viel dabei lernen. Simeon und Nathanael treiben gerade eine Herde störrischer Schafe über den staubigen Boden und streiten dabei lauthals. Ruth hängt ihre Wäsche auf ein gespanntes Seil zwischen den Häusern. Ihre Augen sehen müde aus. Vermutlich hat sie mal wieder wenig Schlaf bekommen wegen der zwei Kleinen. Den Jüngsten hat sie sich mit einem Tuch auf den Rücken gebunden, der ältere Jamal malt mit einem Stock auf dem lehmigen Boden. Konzentriert sieht er aus. Staub hängt in der Luft. Ein Straßenverkäufer zieht mit seinem Eselskarren an unserem Haus vorbei und bietet mir getrocknete Kräuter an. Ich lehne mit einer Handbewegung ab und biete ihm etwas Wasser an, doch er hat es eilig. Ich lehne mich etwas weiter vor, um die Straße hinabzublicken. Ob er bald kommt?
„Mia, wo bist du? Ich warte schon die ganze Zeit auf dich an der Feuerstelle, ich brauche dringend Hilfe bei den Vorbereitungen!“, ertönt es hinter mir. Ich seufze innerlich und drücke mich etwas tiefer in die Nische. Doch es ist unmöglich den Adleraugen meiner ältesten Schwester zu entkommen. „Mia! Hier steckst du! Starrst du schon wieder die Leute an? Was denkst du dir bloß? Komm an den Tisch – los!“ Bei Martas Anblick muss ich kichern. „Was ist los?“, fragt sie mich unwirsch. Ich streiche ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Dein Haar ist zerzaust und voll Mehl- wie viel Brote hast du denn gebacken? Übertreibst du es mal wieder?“ Liebevoll streiche ich über ihre Schulter. Ich weiß, dass es ihr sehr wichtig ist, eine gute Gastgeberin zu sein. „Na du hast gut Lachen- erinnerst du dich, als sie das letzte Mal da waren und gar nicht mehr aufgehört haben zu essen? Ich möchte auf keinen Fall, dass jemand hungrig nach Hause geht!“ Ich lache und begleite meine Schwester. Ich kenne meine Schwester gut. Hinter ihren herrischen Worten versteckt sie ihre Vorfreude. Ich weiß, dass sie sich sehr gefreut hat, als klar war, dass er bald wieder zu Besuch kommen würde.
In der Stube sitzt mein Bruder Lazarus und kaut irgendwas. Marta stemmt ihre Arme in die Hüften und macht ein strenges Gesicht. „Laza, das ist für die Gäste. Tu mir den Gefallen und bringe die Tiere in den Hinterhof, sodass in der Stube genug Platz ist!“ Lazarus spingt vom Tisch, schnappt sich ein weiteres Fladenbrot und grinst uns frech an. „Laza, bitte!“ Marta versucht ihm das Brot aus der Hand zu reißen. Es gelingt ihr nicht. „Na wenns sein muss Schwesterchen“, ruft Laza grinsend, beißt in das Brot und verschwindet samt Brot im Nebenzimmer. „Ich habe das Gefühl, dass sich hier außer mir wirklich niemand schert, dass wir in wenigen Stunden einen Haufen Gäste erwarten!“, schimpft Marta vor sich hin, während sie beginnt, eine Dattel nach der anderen zu entsteinen. „Meinst du, er wird uns wieder eine neue Geschichte erzählen?“, frage ich aufgeregt. Ich liebe seine Geschichten. Er findet immer so treffende Bilder, um mir etwas Kompliziertes verständlich zu erklären. Außerdem kann er richtig gut erzählen. Wenn er eine seiner Geschichten erzählt, dann hängt der ganze Raum an seinen Lippen. Ich habe es schon mehrfach erlebt. Jedes Mal ist es großartig. Er ist ein anderer Rabbi als die in unserem Tempel. Seine Lehrmethoden sind anders. Und er hat mich noch nie aus dem Raum geschickt. Er lässt mich immer zuhören.
Marta reißt mich aus meinen Gedanken, als sie mir einen Krug in die Hand drückt. „Gewiss wird er Geschichten erzählen, aber Maria, heute werden wir keine Zeit haben, zuzuhören. Schließlich ist es unsere Aufgabe, dass seine Freunde satt werden. Kannst du zum Brunnen gehen und diesen Krug füllen?“ Ich verdrehe die Augen. „Marta, ich habe heute morgen schon 3 Krüge geholt, das wird doch ausreichen. Muss ich wirklich jetzt in der Mittagshitze nochmal losziehen?“ Marta sieht mich bittend an. „Naaa gut. Bis gleich.“, rufe ich und mache mich auf den Weg.

Als ich zurückkomme, sieht es anders aus in unserer Straße. Die Schafe sind verschwunden, Jamal, Ruth und das Baby sind nicht mehr zu sehen. Vor unserem Haus steht eine große Menschengruppe. Mein Herz beginnt etwas schneller zu klopfen. Sie müssen da sein! Die letzten Meter zum Haus renne ich und hoffe, dass Marta es nicht sieht. Sie sagt, das ist kein Verhalten für eine junge Frau. Etwas Wasser schwappt aus dem Krug auf mein Kleid. Zum Glück ist es sehr warm heute, das trocknet sicher schnell. Als ich am Haus ankomme, muss ich ein paar Mal rufen, bis die Männer mich durchlassen. Keiner möchte seinen Platz aufgeben. Alle hoffen, durch die Fenster etwas von drinnen mitzubekommen. Als ich in die Stube trete, höre ich sofort seine warme freundliche Stimme. „Maria! Wie schön dich zu sehen!“ „Rabbuni!“, antworte ich strahlend. In unserem Haus ist es so voll, dass ich weder Lazarus noch Marta erblicken kann. „Wie war Eure Reise? Möchtet ihr etwas trinken?“, frage ich und zeige auf den Krug in meinen Händen. „Danke, Marta hat uns schon versorgt!“, antwortet Andreas. „Bleib doch etwas bei uns! Jesus erzählt gerade eine Geschichte über eine verlorene Münze.“ Nichts würde ich lieber tun. Ich denke an Martas Aufgabenliste. Mein Blick wandert zu ihm. Er sieht mich freundlich an und zeigt auf einen freien Platz zu seinen Füßen. Wieder schlägt mein Herz schneller. Er lädt mich ein, seine Zuhörerin zu sein. Zu seinen Füßen zu sitzen und von ihm zu lernen. Wie könnte ich da nein sagen? Marta wird es ungeheuerlich finden. Nur Männer dürfen zu den Füßen des Rabbis sitzen. Aber dieser Rabbi ist nicht wie die anderen Rabbis. Dieser Mann ist nicht wie die anderen Männer. Ich setze mich und lausche seinen Worten. Dieser Lehrer lässt mich seine Schülerin sein. Eine Jüngerin. Entgegen allen Konventionen.