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Wasserdicht

Meine fromme Biografie setzt sich zusammen aus sehr viel evangelikaler Gemeindelandschaft, konservativen Kinder- und Jugendfreizeiten, Kindergottesdiensten, Jungschargruppen, Teen- und Jugendveranstaltungen, Berührungspunkten mit der charismatischen Pfingstbewegung, Hauskreisen, Events, Veranstaltungen, christlichen Büchern und zahlreichen theologischen Diskussionen. Einmal das volle Programm. Als Pastorentochter habe ich viele freie evangelische Gemeinden von innen gesehen. Glaubensthemen waren bei uns zuhause so alltäglich wie Gespräche über den Schulalltag. In meiner Familie ist man (und frau sowieso) meinungsstark. Jede/r hat eine Meinung und die kann sie/er auch äußern. Vor allem bei Glaubensthemen. Und ich immer vorne mit dabei. Beim Antworten wissen, Position beziehen, sich abgrenzen, sich äußern.
Religionsunterricht war meine time-to-shine. Es fühlte sich gut an, immer ein bisschen mehr zu wissen als der Rest. Ich möchte nicht wissen, wie anstrengend mich sämtliche Religionslehrkräfte meiner Laufbahn empfunden haben müssen. Und meine Mitschüler:innen erst. In der anonymen Kommentarspalte in unserem Abi-Buch häufen sich unter meinem Steckbrief Aussagen wie „strenggläubig“, „bibeltreu“, „übermäßig religiös“ oder – mein Favorit- : „Amen“. Was ich viele Jahre als Zeugnis für meinen gelebten Glauben interpretiert habe, lässt mich heute kurz die Augen schließen und die Lippen zusammenkneifen. Puh.
Manchmal macht es mich fassungslos, wie knietief man in etwas stecken kann, ohne zu bemerken, dass man die Füße nicht mehr heben kann.

Verrückt, wie das mit den in sich geschlossenen Systemen funktioniert. Solange du Teil davon bist, ergibt alles Sinn. Alles ist erklärbar, alles in sich stimmig und wasserdicht. Die Bubble um dich herum spiegelt dir deine Meinung von allen Seiten wider, du fühlst dich in deiner Position ständig bestätigt, alles, was du konsumierst, ist aus derselben Denkschmiede.

Wie habe ich so lange in diesem Setting gelebt, ohne bestimmte Fragen jemals zu denken – geschweige denn zu stellen? Wie ist es möglich, dass ich sämtliche Aussagen, die mich durchaus ins Nachdenken und Hinterfragen hätten bringen können, einfach vor mir selbst relativieren konnte? War ich einfach die Queen des Aushaltens kognitiver Dissonanz? Ist es das? James Clear schreibt in seinem Blogpost „Why facts don’t change our minds“ über die starke Bedeutung unserer Peergroup wenn es um unsere Haltungen und Meinungen geht. Könnte eine Veränderung der eigenen Position soziale Nachteile haben, ist es sehr unwahrscheinlich, dass eine solche Veränderung geschehen wird. Er schreibt: „ If they abandon their beliefs, they run the risk of losing social ties. You can’t expect someone to change their mind if you take away their community too. You have to give them somewhere to go. Nobody wants their worldview torn apart if loneliness is the outcome.”
Ich erinnere mich an die Unsicherheit, die mich beschlich bei manchen Diskussionen – sie ließen mein ganzes theologisches Kartenhaus wackeln – zumindest fühlte es sich so an. Mich ergriff zunehmend die Angst, dass mein Kartenhaus zusammenfallen könnte, sollte ich an der falschen Karte ziehen. Und wer war ich ohne mein Kartenhaus?